Fotografie und die Realität

Immer wieder begegne ich in meinen Fotokursen anderen Fotografen oder Fotobegeisterten, die an Ihre Fotos einen extrem hohen Anspruch haben, sie wollen mit Ihren Bildern die Realität zeigen. Bilder sollen mit dem drücken des Auslösers genau das zeigen, was man sieht und sie werden regelmäßig enttäuscht. Kann ein Bild überhaupt einen so hohen Anspruch erfüllen?

Als die Urväter der Fotografie Joseph Nicéphore Niépce, Louis Daguerre und William Henry Fox Talbot die Fotografie entwickelten war es keine zufällige Erfindung, es war ein gezielter wissenschaftlicher Auftrag. Die Welt der Wissenschaft suchte nach einer Möglichkeit die neuen Entdeckungen tatsächlich so festzuhalten, wie sie sind. Anders als die Malerei sollte die Fotografie keinen Einfluss auf die Abbildung nehmen, sie sollte ein 1:1 Abbild dessen liefern, was der Fotograf wirklich gesehen hat und die Realität einfangen. Doch dieses Vorhaben war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, denn ein Bild hat niemals, konnte noch nie und wird niemals die Realität zeigen!


Die Realität lässt sich von der Fotografie nicht einfangen.

Im besten Fall zeigt eine Fotografie einen Teil, eines eingefrohrenen real existierenden Moments. Doch schon die zeitliche Variable verhindert, dass es sich tatsächlich um die Realität handelt.

  1. Die Realität besteht aus einer ständig weiterlaufenden Abfolge von Momenten, ein einziger Moment kann diese Abfolge nur andeuten, jedoch nicht wirklich einfangen.
  2. Die Belichtungszeit Ihrer Kamera liegt in den meisten Fällen nicht bei 1/24 Sekunden (der rechnerischen Belichtungszeit des menschlichen Auges) und fängt somit einen Augenblick ein, den der Fotograf gar nicht gesehen hat. Das gilt sowohl für längere, als auch für kürzere Belichtungszeiten.

Der Bildausschnitt der Fotografie

Auch die Tatsache, dass die Fotografie dazu gezwungen ist einen Bildausschnitt zu wählen, spricht gegen das Abbild der Realität. Ein Foto ist grundsätzlich begrenzt, es hat oben, unten, links und rechts Seitenränder und diese stehen in einem bestimmten Seitenverhältnis zueinander. In der Realität gibt es weder Seitenränder, noch gibt es ein Seitenverhältnis.

Die Realität ist unbegrenzt, lediglich der menschliche Sichtwinkel schränkt diese ein. Doch in der Realität können Sie Ihren Kopf drehen und Ihre Ohren hören auch das, was hinter Ihnen geschieht.


Fotografie sieht. Sie fühlt nicht, sie hört nicht und sie nimmt nicht wahr!

Die Realität ist etwas, dass sich schwer in Worte fassen lässt. Realität ist einfach da und findet in jedem Moment statt, sie umgibt uns, wir nehmen sie wahr, fühlen unsere Umgebung und hören, was um uns herum geschieht. Die Fotografie beschränkt sich darauf nur einen unserer Sinne wirklich anzusprechen, sie zeigt uns lediglich ihre Sicht der Welt.

Dieses Sehen unterscheidet sich jedoch extrem von der menschlichen Sichtweise, denn unser Sehen ist geprägt von unserer Wahrnehmung und die widerum von unserer Lebenserfahrung und unseren Interessen!

Jeder Mensch nimmt seine Umwelt unterschiedlich wahr, wir haben gelernt gewisse Dinge auszublenden. Lediglich 20% dessen, was unsere Augen sehen, erreicht tatsächlich unser Gedächtnis und wird von uns bewusst wahrgenommen. Die Fotografie hingegen hat diese Wahrnehmung nicht, alles was Ihre Kamera durch das Objektiv sieht, wird auch auf dem Bild gezeigt.

Hören und Fühlen kann die Fotografie hingegen gar nicht, wir können lediglich über die eingeschränkten technischen Möglichkeiten, wie Bildaufbau, Tiefenschärfe und Belichtungszeit diesen Teil der menschlichen Wahrnehmung zu kompensieren.


 

Die Aufgabe des Fotografen ist nicht die Realität zu zeigen!

Bereits der Urvater der modernen Fotografie Louis Daguerre hatte sich von dem Anspruch der 1:1 Abbildung verabschiedet. Diese 1:1 Abbildung war für ihn keine Herausforderung und auch keine besondere Leistung, die Welt so darzustellen, wie sie „ist“ war in seinen Augen keine Kunst, sondern ein rein technischer Vorgang. Für ihn bestand die Aufgabe des Fotografen darin, die Welt so zu zeigen, wie er sie sieht.

Für mich besteht die Aufgabe des Fotografen auch eher darin die Welt so zu zeigen, wie ich sie sehe und da ich als Mensch die Welt gar nicht sehe, sondern wahrnehme, ist meine Weltsicht geprägt von Emotionen, Erfahrungen und Erwartungen und diesen Teil gilt es ebenfalls in das Bild zu „zeichnen“!

Wenn Sie zum ersten Mal in einer großen Metropole sind und sich durch einen Stadtteil bewegen, von dem Sie gehört haben, dass es der gefährlichste Stadtteil des Stadt sei und das dort Gewalt an der Tagesordnung ist und es regelmäßig zu Überfällen kommt, dann werden Sie sich vermutlich nicht sonderlich wohlfühlen. Dieses Gefühl, die Angst, die bedrückende Stimmung, das Gefühl immer wachsam sein zu müssen sollten Sie nun auch auf Ihr Bild bannen. Auch wenn die Realität nüchtern betrachtet einfach nur eine Straße, ein paar Bäume, Häuser und kleinere Menschengruppen zeigt.

Nutzen Lichter, Schatten, Kontraste und Farben gezielt. Zeigen Sie Ihr Bild, erzählen Sie Ihre Geschichte und wenn am Ende Entstehungsprozesses ein ganz anderes Bild der Realität gezeigt wird, dieses Bild aber Ihre Sicht der Situation zeigt, dann haben Sie ein wirklich gutes Foto gemacht!